Praxisbericht von Michael Brügger

„Darf ich Martin zuhause noch ein paar Fragen stellen?“…

…fragte mich eine Schülerin nach der Schule. Gemeint war nicht irgendein Martin, sondern Martin Luther höchst persönlich. Im Rahmen eines kleinen Abschlussprojektes im Geschichtsunterricht zum Thema Anfänge der Neuzeit, hatte meine Klasse die Möglichkeit, wichtige Persönlichkeiten aus jener Zeit in einem Chat zu befragen.

Neben Martin Luther standen auch der aztekische König Moctezuma und Christoph Kolumbus den Schüler:innen Red und Antwort. Mit dem Schabi KI-Tool, welches auf die Open-AI-Ressourcen von Chat-GPT und Dall-E zugreift, ist es möglich, einen historischen Chat-Bot für die Klasse einzurichten. Es empfiehlt sich, die virtuellen Persönlichkeiten in einer Schnellbleiche kurz pädagogisch auszubilden, bevor sie mit der Klasse in Kontakt treten.

So musste ich Martin Luther, König Moctezuma und Christoph Kolumbus beibringen, sich kurz zu fassen und ihre Antworten sprachlich an den Wortschatz von 13-jährigen Lernenden anzupassen. Diese Vorbedingungen lassen sich mit den KI-Diensten von Schabi leicht einstellen. Einschränkungen, was unangebrachte Inhalte und Fluchwörter anbelangt, sind standardmässige Voraussetzung.

Die Schüler:innen bereiteten in Gruppen mit Hilfe ihrer Unterlagen aus dem Unterricht drei Fragen an eine der historischen Persönlichkeiten vor. So fragte eine Schülergruppe Moctezuma, den König der Azteken: „Warum haben Sie sich beim Angriff der Spanier nicht verteidigt?“

Moctezuma: „Als die Spanier ankamen, war es in unserer Religion prophezeit, dass unser weisser Gott Quezalcoatl eines Tages zurückkehren würde. Deshalb dachten wir…“

Schülerin: „Deshalb dachtet ihr was?“ (Die Schülerin wollte nicht warten, bis der verblichene König seine Antwort fertig formuliert hatte.)

Moctezuma: „Wir dachten, der Anführer der Spanier, Hernán Cortes, könnte diesen Gott repräsentieren. Deswegen zeigten wir uns anfangs friedlich, um ihn zu ehren.“

Die Schüler:innen erfuhren im Unterricht auf diese Weise Details, die durchaus dem bekannten historischen Wissen aus jener Zeit entsprechen. Beispielsweise erklärte uns Martin Luther, dass die Reichsacht, welche vom Kaiser gegen ihn verhängt worden war, nie aktiv durchgesetzt wurde, weshalb er auch in jener schwierigen Zeit relativ sicher lebte.

Es war den Schüler:innen erlaubt, nachzuhaken und auch persönlichere Fragen zu stellen. Allerdings zeigten sich bei solchen Fragen die Grenzen der KI ziemlich rasch. Beispielsweise behauptete unser Chat-Luther auf die Frage, ob er denn eine Geliebte gehabt hätte, zuerst ganz katholisch: „Nein, als Mönch habe ich mich dem Zölibat verpflichtet und somit auf romantische Beziehungen verzichtet.“ Nach einigem Nachhaken spuckte er dann aber doch aus, dass er Vater von 6 Kindern sei und eine Frau namens Katharina von Bora – eine ehemalige Nonne – geheiratet habe.

Auch seine Haltung gegenüber Andersgläubigen schien der Luther im Chat nicht mehr präsent zu haben. So gab er sich tolerant: „Ich glaube fest daran, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer Religion oder Herkunft, vor Gott gleich sind und seine Liebe verdienen.» Allerdings wissen wir, dass der echte Luther seine antisemitische Haltung ebenso wenig verbarg wie viele seiner Zeitgenossen.

Chat-GPT hätte also durchaus auch von uns lernen können, ja eigentlich müssen. Beim KI-Tool von Schabi ist das allerdings unmöglich, da keine User-Daten den Schabi-Server in Zürich verlassen dürfen.

Natürlich lässt sich die Frage nach dem pädagogischen Mehrwert einer solchen Übung stellen. Da gibt es auf der einen Seite die Freude darüber, dass es ein solches Projekt den Lernenden möglich macht, den Schulstoff aus ihrer ganz persönlichen Perspektive anzugehen und sich auf einem selbstgesteuerten Weg neue Erfahrungen und Erkenntnisse anzueignen. Der Unterricht mit KI hat vielen Schüler:innen Spass gemacht und sie animiert, weiterführende Recherchen zum Unterrichtsthema anzustellen.

Aber gleichzeitig wurden wir uns bewusst, dass wir im Umgang mit KI-Technologien vorsichtig bleiben müssen. Selbst längst Verstorbene sagen nicht immer die Wahrheit. Die Stunde führte also vor Augen, dass man dem Internet und KI gegenüber skeptisch bleiben muss. Entsprechend lohnt es sich, an Schluss eines solchen Projektes die gewonnen Erkenntnisse kritisch einzuordnen und mit wirklich historisch belegtem Wissen abzugleichen.

Und? Natürlich durfte meine Schülerin noch privat etwas mit Martin Luther chatten. Ich wies sie darauf hin, dass ich allenfalls mitlesen würde. Und so erfuhr ich von Tölpel, dem kleinen Hund von Martin Luther, den er mit sich ins Exil auf die Wartburg nahm. Aber auch, dass der Papst seinen Petersdom gefälligst aus dem eigenen Sack hätte finanzieren müssen (These 86).

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